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Wenn schwules Leben stresst (aus „Siegessäule“, januar 2007)

Text: Holger Wicht
Fotos: Damian Collard
Model: Marcel Schlutt

 

Eigentlich war bei Robert alles in bester Ordnung. Ein Traumjob als Redakteur bei einem privaten Fernsehsender, eine schöne Wohnung mitten in der Schöneberger Szene, ein schickes Fitnessstudio gleich um die Ecke, und am Wochenende feierte er mit seinen Freunden im GMF oder im Berghain. Ein schönes schwules Leben. „Leider fühlte es sich überhaupt nicht mehr danach an“, sagt Robert mit einem bitteren Lächeln, „ich war total gestresst.“
Robert fühlte sich ausgebrannt – mit 29. Der Redaktionsleiter lud ihm immer mehr Arbeit auf, 12-Stunden-Tage waren keine Seltenheit.
Robert ärgerte sich immer mehr, wenn er mal wieder eine Verabredung absagen musste, und er hatte ein schlechtes Gewissen, wenn er zu spät loskam, um noch zur Fettverbrennung aufs Laufband zu steigen. Ins Nachtleben startete er nicht selten direkt vom Schneidetisch aus. Dann sprang er fix auf dem Redaktionsklo in frische Unterhosen und ein sauberes T-Shirt.
Zu Hause nisteten derweil die Wollmäuse in Schmutzwäschebergen. „Ich hab das alles nicht mehr geregelt gekriegt“, sagt Robert.
Vielleicht hatte Robert keine Chance. Job, Nachtleben, Haushalt – wie soll man der klassischen schwulen Dreifachbelastung standhalten? So mancher Single fühlt sich ähnlich überfordert wie eine allein erziehende Mutter. Und in Partnerschaften wird’s nicht unbedingt leichter: Wenn beide arbeiten, beschert es oft zusätzlichen Stress, Zeit für die Zweisamkeit freizuschaufeln. Lohn- und Hausarbeit aufzuteilen wie in einer traditionellen Ehe ist im 21. Jahrhundert selbst für die meisten Heteros keine Option. Modernes Leben bedeutet eben: Es gibt keine Patentrezepte mehr; jeder muss sehen, wie er klarkommt.
Damit kennen sich Schwule ja immerhin aus. Ihr Erwachsenenleben beginnt schließlich schon mit Mega-Stress – beim Coming-out. Leider wird danach nicht unbedingt alles einfacher. Denn die Homowelt verheißt zwar Spaß und Freiheit, verursacht aber auch selber jede Menge Stress.
Ortstermin im GMF. Es ist 23 Uhr am Sonntagabend. Nur vereinzelt hocken schon Nachtschwärmer in den niedrigen Kunstledermöbeln des Café Moskau. Während die Mehrheit der Nation sich für die kommende Woche fitschläft, stehen die GMF-Gäste noch zu Hause vor dem Spiegel, um sich schick zu machen für die Nacht. GMF-Macher Bob Young, bekennender Nachtmensch, erfreut sich bester Laune, steht aber unter Spannung: Mitte des Jahres läuft der Mietvertrag im Moskau aus, und einen neuen wird es wahrscheinlich nicht geben. Vielleicht zieht das GMF dann in die Katakomben des Admiralspalastes, aber noch ist nichts in Sack und Tüten. „Das ist Lowgrade- Stress“, sagt Bob, der aus Amiland stammt, grinsend. Ein bisschen Druck gehört für ihn zur notwendigen Betriebstemperatur. Und was ist „too much”? „Wenn du irgendwas sein musst, was du nicht bist”, sagt Bob.
„In der Szene ist zum Beispiel alles materialis - tisch ausgerichtet, auf Körper und Mode. Davon hängt ab, ob du Anerkennung bekommst und dich als begehrenswert empfindest. Wenn du nicht schön und jung bist und nicht täglich ins Fitnessstudio rennst, bist du nicht perfekt.” Selbst wer das alles zeitweilig hinbekommt, zerschellt irgendwann an der Angst vor dem Älterwerden. „Mit Mitte zwanzig haben die meisten ihre erste Panikattacke.” Die Diagnose des Party-Machers bestätigt der Soziologe Michael Bochow, Experte für die Lebensstile schwuler Männer: „Der Druck, den richtigen Körper und angesagte Kleidung mitzubringen, ist enorm.” Einen Grund dafür sieht Bochow im Männlichkeitskult. „Noch immer fühlen sich viele Schwule durch Diskriminierung in ihrer Geschlechts identität verunsichert und kompensieren das durch besonders männliche Selbstinszenierung.”
Auch in den alternativen Szenen, die sich von Körperkult und Markenfetischismus abgrenzen, ist nicht alles easy; sie pflegen stattdessen andere Körpernormen wie extreme Schlankheit. Den Modediktaten kann man dort finanziell zwar leichter gerecht werden, weil zum Beispiel eine Second-Hand-Skijacke ausreicht. „Dafür wird aber verlangt, dass man eine bestimmte Coolness an den Tag legt“, sagt Bochow.
Wo auch immer: Ein angeschlagenes Selbstwertgefühl scheint beim schwulen Kampf um Marktwerte eine wichtige Rolle zu spielen. So mancher Schwule plagt sich im Job besonders heftig ab, um sich gegen Angriffe homophober Chefs und Kollegen unangreifbar zu machen. Gekränkte Seelen versuchen sich im Partyleben zu heilen, indem sie als Königin der Nacht aufrauschen – und machen damit alles noch schlimmer, weil sie die Maßstäbe für sich und andere bekräftigen. Bob Young bringt es auf den Punkt: „Auch die Leute, die die ganzeMuskel-Geschichte durchziehen, fühlen sich doch oft schrecklich. Wer versucht perfekt zu sein, wird irgendwann daran leiden, weil niemand immer perfekt sein kann.“
Der Berliner Diplom-Psychologe und Anti- Stress-Trainer **** kennt das Problem aus Seminaren, die er im schwulen Tagungshaus Waldschlösschen bei Göttingen anbietet. „Manche der Teilnehmer halten sich für zu dick oder zu hässlich, oder sie glauben, ihr Schwanz sei zu klein“, sagt ****. Vor allem Jüngere fühlen sich nach ****s Erfahrungen zudem gegängelt von der Ausrichtung vieler Szenebereiche auf Sex und Partyleben. Diese Jugendlichen suchen kurz nach dem Comingout ihre Identität und nicht selten den ersten Mann fürs Leben. Die Szene ist ihre Hoffnung, und so fällt es schwer, nachts um drei zwischen entblößten Oberkörpern und unter flimmernden Pornobildschirmen ein Gefühl von Geborgenheit zu entwickeln. Eine Hauptrolle im falschen Film – auch das kann Stress sein. Überhaupt: „Die langen Nächte der Homos müsste die Weltgesundheitsorganisation eigentlich verbieten”, sagt Michael Bochow. Er meint das im Scherz, weiß aber auch, dass das exzessive Nachtleben vielen auf Dauer schlecht bekommt. „Die Leute suchen immer weiter nach Kicks und finden deshalb kein Ende. Die Drogen dienen oft gar nicht mehr dem Spaß, sondern nur dem Zweck, durchzuhalten.” Bis man nach dem letzten Beat noch in die Sauna fährt. Bis man als einer der Letzten im Dark - room steht und hofft, dass doch noch einer kommt. Bis es weh tut.
Warum gehen manche so weit? Die Bedürfnisse hinter dem gierigen Verlangen können grundverschieden sein. Der eine fühlt sich nur liebenswert, wenn er noch einen abbekommt. Ein anderer will Probleme bei der Arbeit verdrängen – Vergnügungssucht kann durchaus ein misslungener Versuch der Stressbewältigung sein. Nicht zuletzt gilt es in der Szene als cool, bis zum Abwinken zu feiern. Den Depri- Montag macht dann jeder für sich durch. Natürlich gibt es auch Leute, die Sex and Drugs und Party-Life relativ gut im Griff haben und nicht darunter leiden. „Die Leute, die kein Ende finden, sind eine kleine Gruppe”, sagt Bob Young. Und **** betont: „Stress ist etwas sehr Individuelles, man kann keine allgemeingültigen Aussagen darüber machen, was gut und was schlecht ist.“ Lange Nächte in qualmgesättigter Luft zwischen wummernden Boxen sind für den einen Psycho-Terror – und für den anderen Erholung pur. Bei den meisten liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. Sicher ist: Man braucht ein gesundes Selbstbewusstsein, um sich dem Leistungsdruck der Szene zu entziehen und selber zu entscheiden, was gut für einen ist – statt einfach zu tun, was die Mehrheit zu bevorzugen scheint. Sonst wird Stress leicht zum Dauerzustand. Und genau das darf nicht passieren. Denn Stress empfindet der Mensch normalerweise in Ausnahmesituationen. Bei Gefahr steigert Stress die Leistungsfähigkeit. Die Atmung wird schneller, der Puls beschleunigt, um die Sauerstoffversorgung zu erhöhen, Adrenalin macht wach und fit. Eine gute Strategie für Notfälle – aber dauerhafter Stress führt zu Nackenverspannungen und Rückenschmerzen, zu Herzproblemen und Depressionen.
Robert leidet unter nächtlichem Zähne knirschen, die innere Verkrampfung lässt ihn die Kiefer aufeinandermahlen. Seine Zahnärztin hat ihm eine Beißschiene aus Kunststoff zum Schutz der Zähne verschrieben, aber gegen die Verspannungen hilft die natürlich nicht.
Bei Michael waren es Herzrasen und Schlafstörungen.
Der 47-jährige Berliner fuhr zu einem von ****s Seminaren, um herauszufinden, was dahintersteckte. Als professioneller Koch in einem Community-Projekt für Menschen mit HIV geriet er immer wieder mit den Sozialarbeitern im Team aneinander. Wie zackig wird gearbeitet, wie viel wird vorher diskutiert? Erst im Seminar wurde Michael klar, dass solche Interessenkonflikte unvermeidlich waren. Nun sind die Meinungsverschiedenheiten zwar nicht beseitigt, aber Michael kann seine Interessen besser vertreten. „Mit bewuss - tem Stress komme ich sehr viel besser zurecht als mit einer unklaren Situation.” Vor allem aber erkannte Michael, dass der Stress ihn längst mehr im Griff hatte, als er glaubte. Seinen Job-Frust kompensierte er nämlich mit Sex; er zog – ganz im Gegensatz zu seinen sonstigen Gewohnheiten und Vorlieben – durch Bars und Saunen und suchte Entspannung in schnellen Begegnungen. Zuerst fühlte sich das ganz gut an. „Es hat ein bisschen gedauert, bis ich kapiert habe, dass mich das alles eigentlich nicht befriedigt hat.“ Bei Robert dauerte es länger, bis er imstande war, etwas zu ändern. Den Stress bei seinem TV-Job sah er als branchenüblich, also natur - gegeben, auf das Partyleben wollte er nicht verzichten. Schließlich schlug ihm ein Freund vor, sich zumindest eine Putzfrau zu suchen.
„Seltsam, dass ich nicht selber drauf gekommen war”, sagt Robert rückblickend. Der gleiche Freund überzeugte ihn, nur noch zweimal pro Woche ins Fit nessstudio zu gehen. „Zuerst hatte ich Angst, dass mir nach ein paar Tagen der Bauch über den Gürtel hängt”, sagt Robert lachend. „Aber dann habe ich gemerkt, wie entspannend es war, einfach mal einen Abend nichts zu machen.” Als Nächstes steht nun ein Termin mit dem Redaktionsleiter auf der Agenda. Mal sehen, was geht.
Meistens geht mehr, als man denkt. Das ist eine wichtige Botschaft von ****s Seminaren. Schließlich ist die schwule Welt immer vielfältiger als der Ausschnitt, in dem man sich bewegt. „Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass viele Schwule kaum Kontakt zu diesen stressigen Szenebereichen pflegen”, weiß auch Michael Bochow. In anderen Ecken der Szene gelten ganz andere, jeweils eigene Gesetze, sei es nun im schwulen Sportverein, beim Tanzkurs im „Café Fatal” oder im Freundeskreis.
Wer seinen Aktionsradius erweitert, kann möglicherweise seine einsamen Online-Stunden bei der Partnersuche auf Gayromeo – auch ein häufiger Stressfaktor –deutlich reduzieren. Wer notorisch ausgeht, um nach Sex zu suchen, kann bei Gayromeo hingegen Entlastung finden. Es ist alles immer eine Frage der individuellen Situation: Manche Paare sollten es möglicherweise mit einer offenen Beziehung ver suchen, andere täten gut daran, die Beutezüge außerhalb der Ehe einzuschränken.
Manchmal sind ein paar geschickte Denkanstöße notwendig, um herauszufinden, wo das Problem liegt und ob man die Sache auch anders sehen könnte. Wenn zum Beispiel einer von ****s Seminarteilnehmern glaubt, ihn werde nie jemand lieben, wenn er sich keinen Waschbrettbauch antrainiert, stellt der Seminarleiter einfach die Frage, ob das denn wirklich stimmt. Dann stellt sich meistens heraus, dass der Betroffene durchaus Menschen um sich hat, die ihn lieben.
Problem erkannt, okay, aber gebannt ist es damit noch nicht unbedingt. Oft ist es nötig, von Gewohnheiten Abschied zu nehmen und Neuland zu betreten. Ausreden darf man sich nicht durchgehen lassen, wenn man wirklich rauswill aus dem Stress. „,Ja, aber ...’ gilt nicht”, sagt ****. „Prinzipiell gibt es immer nur zwei Möglichkeiten: Entweder man ändert etwas, oder man lernt mit der Situation zu leben, wie sie ist.“ In schwierigen Fällen empfiehlt er durchaus auch mal eine Psychotherapie. Oft aber genügt es, sich klar zu überlegen, was man erreichen möchte und – ganz wichtig! – was realistisch ist. Fünf Kilo abzunehmen ist für viele möglich, für immer aussehen zu wollen wie mit 20 sollte man sich beizeiten abgewöhnen. Wer weiß, was er will, sollte sich einen verbindlichen Zeitplan erstellen.
Wobei gut Ding manchmal Weile haben will. „Man kann zum Beispiel mit der Zeit lernen zu sagen: Ich muss nicht unbedingt allen 200 Partygästen gefallen”, schlägt Michael Bochow vor und fügt fröhlich hinzu: „Mir persönlich reichen 10.”

In der nächsten Siegessäule: Was Lesben stresst

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